Bulimie heißt: Essen Müssen, heißt Aufmerksamkeit Brauchen, heißt Ganz Voll Werden und gleich wieder Ganz Leer Werden Wollen – nein: Müssen.
Frauen mit Bulimie hören nicht auf zu essen, bis der Kühlschrank leer ist, und stecken sich anschließend den Finger in den Hals.
Bulimie ist kurz gesagt: Fress-Kotz-Sucht.
Bulimie bleibt fast immer geheim und gilt gemeinhin als Schande.
Dass man Bulimie auch ganz anders verstehen kann, zum Beispiel als liebevoll aufrüttelnde, aufmerksame, heilende Kraft für eine ganze Familie, erfahren die Teilnehmer der Krankheitsaufstellung bei Dr. Dorothea von Stumpfeldt & Christine Schulze.
Elisabeth ist eine junge, quicklebendige, attraktive Frau. Schlank, nervös, etwas fahrig. Elisabeth hat Bulimie und entschloss sich zu einer Krankheitsaufstellung. Dorothea von Stumpfeldt und Christine Schulze entwickelten die Krankheitsaufstellung, um Ursachen von psychischen und somatischen Krankheiten zu verstehen und einen ersten Heilungsimpuls zu geben.
Wie in der Familienaufstellung wählt die Patientin Menschen aus einem Kreis ihr unbekannter Menschen aus, die sie selbst und die für sie wichtige Personen repräsentieren – in der Krankheitsaufstellung kommen auch noch betroffene Organe, Krankheiten und Gefühle hinzu.
Elisabeth überlegt. Wer ist wichtig in ihrem Leben? Natürlich sie selbst, natürlich auch die Mutter. Und der Vater, selbst wenn er verstorben ist.
Von ihren sechs Schwestern wählt sie auf einen Hinweis der Aufstellungsleiterin, eine Stellvertreterin für die Schwester, die als Kind gestorben ist. Denn auch die Familienmitglieder, die schon tot sind, prägen das Leben der Lebenden.
Elisabeth wählt auch eine Darstellerin für die Bulimie und eine andere für ihre ständige Begleiterin, die Angst.
Sie fasst jede der Personen, die nichts über sie und ihre Geschichte kennen, bei der Hand, stellt sie an eine Stelle in den Kreis und setzt sich anschließend hin.
Ab nun ist sie nur noch Zuschauerin und betrachtet von außen, wie sich ihr Leben, ihre Krankheit, ihre Vergangenheit, ihre Heilkraft entfalten.
Ab dem Moment, wo der “Vater” neben die “Tochter” gestellt wird, schmerzt ihm die Brust. Wut macht sich darin breit, fast Hass. Schultern und Arme sind voller Energie, mit ihnen will er am liebsten zuschlagen.
Was soll er hier? Was hat er mit diesen Menschen zu schaffen?
Aussagen wie diese entlockt Christine Schulze der überraschten Darstellerin des Vaters. Diese weiß selbst nicht, woher die plötzlichen Gefühle und Körperwahrnehmungen kommen. Sie kennt niemanden der anderen Darsteller. Es kann sich nur um die Gefühle des tatsächlichen Vaters handeln. Wie Elisabeth nachher berichtete, starb dieser tatsächlich an Herzversagen.
Dies ist das erste große Geheimnis der Krankheits- und Familienaufstellung: Im Augenblick der Aufstellung entsteht ein System, ein Feld, in dem sich dieselbe Dynamik entfalten kann wie in der Original-Familie. Wie durch Magie weisen die einzelnen Elemente entsprechende Emotionen und Reaktionen auf.
Der große Unterschied ist: die Stellvertreter-Familie oder der Stellvertreter-Körper hat viel mehr Ruhe und Aufmerksamkeit zur Verfügung, um Heil-Impulse zu finden.
Und das ist das zweite große Geheimnis dieser Arbeit: Heil-Impulse, die während einer Aufstellung geschehen – Versöhnungen, Erkenntnisse, Auflösung von Blockaden – finden ihren Weg in das Unbewusste und so auch in das Leben des Patienten; und in vielen Fällen sogar in die gesamte Familie.
Vor den Augen der Zuschauerin Elisabeth entfaltet sich das ganz normale Drama einer Familie: nicht verarbeitete Trauer, Heimlichkeit, Unfähigkeit zur Liebe, Schweigen, wo gesprochen werden müsste.
Tränen laufen über Elisabeths Wangen, als sie ihre eigene Stellvertreterin sieht: stumm, mit vor Entsetzen großen Augen, fassungslos vor der Stummheit der Eltern.
Doch sie hat ihre Helferkräfte:
Die Angst wird zur Mahnerin, die ihr beisteht und keine Ruhe gibt.
Die Bulimie ist eine quirlige Kraft, die lebendig und unermüdlich daran arbeitet, Mutter und Tochter zusammen zu bringen und den Vater zu konfrontieren. Was die Tochter nicht schaffte, schafft die Bulimie:
Der Vater wendet sich ihr zu, er hört hin, er lässt sich erreichen von ihrem Ruf:
“Ich will leben”!
Eine körperlich spürbare Erleichterung, ein Aufatmen geht durch den ganzen Raum und erfasst alle Zuschauer und Teilnehmer, als der Vater endlich aufweicht, seinen Hass aufgibt und sie als seine Tochter anerkennt:
“Du bist meine Tochter! Du darfst leben.” Während diese Akzeptanz durch den Vater geschieht, wird im ganzen System etwas zu Recht gerückt; Elisabeth kann allein stehen und braucht ihre Krankheit nicht mehr.
“Danke, Bulimie, für deine Hilfe. Ich brauche dich jetzt nicht mehr.”
Mit diesen Worten verabschiedet sie eine Sucht, die sie Jahre lang in den Klauen hatte.
Das Gefühl, überflüssig zu sein, erfasst jetzt auch die Darstellerin der Bulimie. Sie zieht sich zurück.
Wie kann die symbolische Versöhnung und Akzeptanz durch einen Menschen, der schon gestorben ist, heute eine heilende Wirkung haben?
Frau Dr. von Stumpfeldt antwortet:
“Verstorbene Familienmitglieder leben als Gedankenfelder in uns weiter. Die Aufstellung kann diesen Teil wieder lebendig machen und mit uns versöhnen.”
Am Ende stellt sich Elisabeth in den Kreis an den Platz ihrer Stellvertreterin, um selbst in den Genuss des heilenden Impulses zu kommen.
“Ja”, sagt sie nachher, “jetzt kann ich mir vorstellen, dass sich wirklich etwas verändert.”