Manfred ist geheilt. Jedenfalls von der Allergie, die ihn als Kind befallen und die gesamte Gesichtshaut in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die Haut ist vollkommen wieder hergestellt. Nur etwas blieb zurück: ein Zucken im linken Augenlid. Zunächst fällt es gar nicht auf, aber je mehr Manfred spricht, je bewegter er innerlich ist, desto mehr macht sich seine ganze linke Gesichtshälfte selbständig. Auge, Wange, Lippe zucken unkontrolliert. Das Gesicht verzieht sich fast ständig einseitig zu einem grauenhaften Grinsen. Manfred hat eine Muskelschwäche.
Es ist schwer, sich vorzustellen, dauerhaft mit diesem Gesicht zu leben und zur Ruhe zu kommen.
Mit diesem Problem kommt Manfred zur Krankheitsaufstellung.
Für die Diagnose und die ersten Schritte der Behandlung von Krankheiten, die nicht rein somatischer Herkunft sind, benutzen Christine Schulze und Dr. Dorothea von Stumpfeldt eine Methode, die sie selbst entwickelten:
Die Krankheitsaufstellung.
Manfred ist nicht der erste, der an diesem Tag seine Krankheit “aufstellt”. Mehrmals wurden er und andere Mit-Patienten und Teilnehmer des Workshops Zeugen von bewegenden Versöhnungen, von endlich gefundenen Aussprachen und heilenden Worten.
Die Krankheitsaufstellung betrachtet eine Krankheit nicht als Einzelphänomen.
So wie jeder Mensch Teil eines Ganzen ist, so ist eine Krankheit der Ausdruck für eine Störung im Gesamtsystem, in dem er lebt: in der Familie, der Gesellschaft, im Lebensumfeld. In einer kranken Umgebung kann man nicht gesund sein.
Heilung eines Einzelphänomens bedeutet immer auch Heilung am Gesamten.
Das Aufstellungsteam sieht eine Krankheit als Botschaft und Helferkraft. Sie suchen die Lösung dort, wo das Problem entstand: im Lebensumfeld, in der Familie. Wenn hier, in der symbolischen Darsteller-Familie eine Heilkraft entsteht oder gefunden wird, dann überträgt sie sich auf die reale Familie.
Und – jede Frage, jede Krankheit kann grundsätzlich “aufgestellt” werden.
Manfred war im heutigen Ablauf der Aufstellungen schon mehrere Male Darsteller. Jetzt ist er es, der Stellvertreter sucht – für sich selbst, für seine Eltern, Großeltern und schließlich auch für seine Krankheit: das Muskel-Zucken im Gesicht.
Nachdem er die Darsteller ausgewählt und in die Mitte des Kreises geführt hat, setzt er sich auf einen Stuhl. Ab jetzt muss er nichts mehr tun, als zuzuschauen, was aus den Elementen wird, die sein Leben ausmachen, wie sie zusammen agieren, reagieren und nach einer Lösung suchen. Und das ist spannender als jeder Krimi!
“Ich habe nur Liebe für ihn”, spricht die Darstellerin seiner Großmutter und blickt starr geradeaus. “Das Kind hat keinen Grund, sich ungeliebt zu fühlen.” Zwischen ihr und der ebenso starren “Mutter” wird der Stellvertreter von Manfred blass und stumm. Genauso steif und stumm scheint alles in dieser Familie zu sein. Alles – bis das Zucken sich zu Wort meldet.
Die Darstellerin des Zuckens hält es nicht auf ihrem Platz. Sie zappelt und würde am liebsten auf und ab hüpfen wie ein Gummiball. “Mich juckt es am ganzen Leib”, sagt sie. Die Leiterin dieser Aufstellung fordert sie auf, ihrer Energie zu folgen.
“Schimpfen will ich”, sagt die Darstellerin, die selbst von ihrer Energie überrascht wird “Fluchen, ärgern, jedenfalls nicht still halten.” Zuerst etwas zögernd, aber auf Anfeuern der Anderen immer lebhafter, beschimpft sie die erstarrte Familie, kichert und krächzt wie eine alte Hexe.
“Wer bist du?” wird sie gefragt.
“Ich bin die Bosheit und die Lebendigkeit, ich bin der Lebensfunke, nicht auszulöschen. Ich bin hier, um euch aus eurer Starre aufzuwecken!”
Die Anderen sitzen wie im Theater, und während das Zucken in Manfreds Gesicht eine Persönlichkeit, einen Willen und Worte erhält, entfaltet sich die Situation, in der der kleine Manfred aufgewachsen ist: die Kälte der Großmutter, die Erstarrung der Mutter, der verstummte Vater.
Dreh- und Angelpunkt der Familie ist die Großmutter, in deren Nähe jede Lebendigkeit verblasst. Jede – bis auf das Zucken.
Die Darstellerin des Zuckens gibt nicht nach, sie greift an, sie spricht alles aus, was niemand in der Familie aussprechen konnte. Und sie sieht, was niemand anders wagt zu sehen: die dunkle Wolke, die über dem Kopf der Großmutter schwebt. Und dann, zögernd und allmählich, öffnet sich die “Großmutter” für die Wahrnehmung, dass sie vielleicht tatsächlich nicht die liebende Person ist, die sie immer vorgab zu sein.
Nicht der Enkel ist merkwürdig, wie sie ihn immer vermittelte, sie ist es selbst. Und als sie allmählich nach innen blickt, steigen in der Darstellerin innere Bilder auf, Erinnerungen aus dem Leben einer Frau, die sie nie kennen gelernt hat.
“Da war etwas, ein tiefer Schock, ein geliebter Mensch, der sich umgebracht hat. Da war ein Verlust, und den habe ich nie überwunden.”
Wie sich später herausstellt, gab es diesen Selbstmord-Fall tatsächlich in der Familie, aber keiner im Raum hatte es gewusst.
Wie kommt es, das die Darsteller diese Gefühle, von denen sie vorher nie gehört haben, so nachempfinden können?
Das gehört zu den Phänomenen, die die Krankheitsaufstellung zwar benutzt, aber nicht erklären kann.
Nicht gelebte Trauer, nicht ausgedrückter Schmerz lassen sich nicht unterdrücken. Versucht man es doch, leben sie versteckt weiter – zum Beispiel als Zucken im Gesicht des Enkels.
Ein Schock oder ein Schmerz, der nicht verarbeitet wird, lebt weiter als unausgesprochener Gedanke.
Auf Anweisung von Frau Dr. von Stumpfeldt findet die Darstellerin der Großmutter endlich, nach Jahrzehnten, Worte für ihren Schmerz. Sie gibt ihn ab in die Generation, in die er gehört, und befreit so die jetzt lebende Familie. Je mehr sie das tut, desto mehr können alle aufatmen und aus ihrer Erstarrung erwachen: Mutter, Vater und Sohn.
Und was ist mit dem Zucken? “Ich glaube, ich habe meine Aufgabe getan. Jetzt muss ich nur noch von jemandem entlassen werden”, findet die Darstellerin des Zuckens. Der Stellvertreter von Manfred ist gerne dazu bereit.
Heißt das, dass Manfred jetzt geheilt ist?
“Es braucht eine Weile, bis sich solche neuen Gedankenmuster im ganzen Körper ausbreiten”, erklärt Dr. von Stumpfeldt: “Wenn man diesem Vorgang genug Zeit gibt und ihn nicht stört, gibt es eine sehr realistische Heilungschance, wie wir es schon oft erlebt haben.”
Wir sehen Manfred vier Wochen später zu einer weiteren Aufstellung. Das grimassenhafte Zucken ist komplett verschwunden. Bei Aufregung ist nur ein leichtes Zucken des Lippenwinkels zu sehen, für die, die seine Geschichte kennen. Wenn es jetzt auftaucht begrüßt Manfred seine Lebensenergie, umarmt sie und dankt ihr. Das Zucken lächelt und verschwindet.