Erschienen in der Zeitschrift SPUREN in der Schweiz, Januar 2001
Sieht so die Sprechstunde der Zukunft aus? Sie beginnt mit chronischen Rückenschmerzen – und endet bei einer Versöhnung der Eltern. Dazwischen lagen Zorn, Schmerz, Auflehnung, Angst, Einsamkeit, dazwischen lag das Drama einer bis zu ihrem seelischen Ursprung zurück verfolgten Krankheit. Und am Ende erlebten wir – Zuschauer und Patient – das erlösende Gefühl heilender Worte.
Die sogenannte Krankheits-Aufstellung ist eine Weiterentwicklung der Familienaufstellung von Bert Hellinger.
Dr. Dorothea von Stumpfeldt, praktische Ärztin und Psychiaterin aus Berlin, hatte nach ergänzenden Therapien gesucht. „Während meiner therapeutischen Arbeit in Gefängnissen sah ich immer wieder den Zusammenhang zwischen Krankheit und Lebensgeschichte der Patienten, manchmal auch der Lebensgeschichte der Eltern. Ich konnte die oft zu mechanische Deutung der klassischen Medizin nicht mehr akzeptieren.“
Chronische Krankheiten brauchen einen Blick auf die Seele. Mit ihrem Team stieß sie auf die Familienaufstellung und wandelte sie um.
Der Mann mit den Rückenschmerzen zögert. Dann wählt er eine Frau für die Problemzone Becken, von dem die Schmerzen ausgehen, eine andere für den Schmerz selbst, einen Mann für den durch den Schmerz ausgelösten Kummer – sowie Darsteller für seine Mutter, seinen Vater und sich selbst. Schließlich setzt er sich und ist ab sofort Zuschauer seines eigenen Lebensdramas. Christine Schulze, eine der Mitarbeiterinnen Stumpfeldts, befragt die Darsteller: „Wie fühlst du dich? Wie geht es dir hier?”
Darsteller und Zuschauer sind aufgefordert, auf alle Gefühle, körperliche oder psychische Wahrnehmungen zu achten – ganz besonders auf das Verhältnis zu den anderen Darstellern. Jetzt haben sie nicht mehr nur eigene Emotionen und Symptome, sondern sind Antennen für die Emotionen und Symptome des Elementes oder der Person, die sie darstellen. Diese Erfahrung ist ja der Kern der systemischen Therapie, er gilt auch bei der medizinischen Nutzung.
Stumpfeldt: “Der Wirkzusammenhang einer Krankheit vollzieht sich auf mehreren und manchmal sehr unterschiedlichen Ebenen. Schmerz und organische Veränderungen bilden in sich eine Einheit, innerhalb derer sich wiederum einzelne Ereignisse vollziehen.”
Gleich werden einige Dinge klar: Sohn, Krankheit und Schmerz stellen sich zur Mutter, der Vater wendet sich ab: “Sie können mir gestohlen bleiben. Ich will den Sohn nicht.” Der Vater schaut weg, die Mutter aber kann den Blick nicht abwenden. Schmerz, Problemzone und Angst stellen sich zwischen Mutter und Vater, als eine Art lebendes Schutzschild zwischen ein Paar, dessen Beziehung nicht durch Liebe, sondern durch Enttäuschung und Unverständnis – ja sogar Haß geprägt ist. Wir werden Zuschauer, wie der Sohn mit seinen Schmerzen eine Bürde trägt, die nicht die seine ist. Das Becken sagt: “Ich gehöre eigentlich zur Mutter und möchte zu ihr. Ich bin ihre Lebenskraft, ihre Lust. Aber ich muß hier bleiben und sie schützen – sie ginge ein, wenn sie ihm direkt gegenübersteht.”
In wenigen Momenten werden hier psychoanalytische Zusammenhänge sichtbar, hörbar, ja sogar fühlbar, für die man auf der Couch Jahre bräuchte. Die Eltern müssen sich versöhnen, jedenfalls auf der Bühne der Krankheitsaufstellung – denn die reale Mutter ist vor Jahren gestorben – sonst kommt der Sohn nicht von den Schmerzen los. Angst, Schmerz und Lebenskraft werden nützlich, sie helfen mit, daß die Wahrheit ans Licht kommt. Endlich: Der Haß des Vaters macht sich Luft: dessen Wurzel ist abgewiesene Liebe. Als diese ihre wahrhaftigen und glaubwürdigen Worte gefunden hat, geht eine unsichtbare Welle der Erleichterung durch alle Anwesenden im Raum: das ist wohl der Moment, wo Heilung geschieht.
Für den Sohn gilt es, die richtigen Worte des Abschieds zu finden, damit er den Schmerz abgeben und sein eigenes Leben leben kann.
“Wir benutzen nicht die klassischen Formeln der Familienaufstellung”, erläutert von Stumpfeldt. “Wir schauen und probieren, bis wir die richtige Aufstellung der Organe und die richtigen Worte gefunden haben. Das erfordert von allen hohe Aufmerksamkeit für das Gefühl der Harmonie.”
In dieser Krankheits- oder hoffentlich Heilungsgeschichte tritt Harmonie ein, als Vater und Mutter sich schließlich nebeneinander stellen können, um den Sohn gemeinsam in sein Leben zu entlassen.
“Danke”, sagt die Mutter, “danke, daß du meinen Schmerz getragen hast.”